Realität ≠ Wirklichkeit ≠ Bewertung
Automatik oder Selbstkontrolle - Sag öfter "HALT!"
Stimmt das eigentlich, was ich da denke? Was, wenn das ganz anders ist? Und wenn, warum?
Im Coaching - Gespräch gelangt man immer wieder an Punkte, an denen Denkmuster aufgedeckt werden, die der Klient verinnerlicht hat, mittels derer er seine Wirklichkeit organisiert. Da diese Denkmuster in der Regel innerhalb automatischer Prozesse im Hintergrund ablaufen, sind sie dem Klienten meist eben nicht wirklich bewusst. Daher ist die Entdeckung solcher Mechanismen häufig von einer kurzen Verblüffung und einem befreienden Lächeln begleitet, wenn klar wird, wie sehr die unbewusst ablaufenden Denkmuster die persönliche Wirklichkeit beeinflussen. Umso mehr, wenn es keine Beweise für die zu Grunde liegenden Annahmen gibt, sie sich also „eingeschlichen“ haben.
Experiment: „Paul und Pauline leben seit einem Jahr in einer kleinen Dachgeschosswohnung in Paris. Eines Nachmittags kommt Paul nach Hause aus dem Büro, schließt die Tür auf und findet Pauline tot am Boden inmitten einer Wasserlache umringt von Glasscherben.“
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Wahrnehmung – für wahr nehmen
Unsere (Lebens-)Wirklichkeit entsteht durch die Wahrnehmung der uns umgebenden Realität und deren Einordnung in einen größeren Kontext. Unsere Wahrnehmung ist auf unsere Sinne (und bei dem ein oder anderen vielleicht auch Über-Sinne, aber dennoch immer:) beschränkt. Unsere Augen nehmen ein Spektrum gewisser Wellenlängen wahr, unsere Ohren eines gewisser Frequenzen. Ebenso verhält es sich mit den anderen Sinnen. Alles jenseits davon bleibt uns verborgen. Aus diesen Sinneseindrücken entsteht eine Abstraktion der Realität und bildet unsere persönliche Wirklichkeit. Die Rohdaten der Sinne werden gefiltert, aufbereitet und zur weiteren Verarbeitung höheren Denkprozessen zur Kenntnisnahme angedient. Bereits auf der Ebene der direkten Wahrnehmung ist also unsere Vorstellung der Welt grundlegend verschieden von der tatsächlichen Welt.
Nun ist unser Ego in einer Welt aus komplexen Systemen, Bewertungen und Abhängigkeiten zu Hause, in die die jeweilige gegenwärtige Wahrnehmung als Information ebenso eingeordnet werden soll, wie allerlei Informationen aus Sekundärquellen. Dabei wird die Diskrepanz zwischen den Rohdaten und der Realität bisweilen noch einmal signifikant größer. Denn unser Gehirn ist in der Regel bestrebt, erhaltenen Informationen Kohärenz, also Logik, Zusammenhang und Sinnhaftigkeit zu verleihen. Dazu ergänzt es im Zweifelsfall fehlende Information durch Annahmen. Es füllt sozusagen die Lücken mit eigenen Inhalten. Das gilt ebenso für unsere Erinnerungen, aber das ist ein eigenes Thema, auch bekannt als „Mandela-Effekt“ oder sachlicher „Erinnerungsverfälschung“. Wer sich dafür interessiert mag vielleicht bei GEO vorbeischauen, wo ein informativer Artikel zum Thema zu finden ist. Diese Neigung des Gehirns, inhaltlichen Sinn zu generieren, wird auch bei der Hypnose ausgenutzt, was eine interessant Parallele und für einen späteren Beitrag vorgemerkt ist.
Automatische Annahmen und Wertungen
Ein Sprichwort lautet: „Wir sehen die Dinge so wie wir sind, nicht wie sie sind.“, was eine schöne Beschreibung der Konsequenz obiger Mechanismen ist. Das Ergänzen fehlender Teile, um lückenhafte Information zu einem sinnvollen Ganzen zu verschmelzen ist also hochgradig individuell und von der persönlichen Ausrichtung und Erfahrung geprägt. Und auch andersherum prägend für die weitere persönliche Ausrichtung. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir also immer mehr so wie wir bereits sind. Automatisch, ganz nebenbei.
Kommen wir zurück zu Paul und Pauline vom Anfang: „Paul ist untröstlich, und als er das offene Fenster sieht ist ihm klar, dass er das zu verantworten hat. Hätte er doch nicht vergessen, das Fenster zu schließen. Immerhin waren Windböen angesagt gewesen, und nun hatte der Fensterflügel Goldfisch Pauline samt Aquarium herunter gestoßen“.
Ich denke, der Begriff der falschen Grundannahme ist damit schön illustriert, selbst falls jemand hier tatsächlich einen Goldfisch angenommen hat. Es gibt ganze Module von Einstellungstests, bei denen Fragen nur auf Basis der in kurzen Texten enthaltenen Informationen zu beantworten sind.
Je nachdem, wie wir selbst gerade ticken und in welcher Stimmung wir sind, wird unsere Automatik eine Situation mit anderen Details ergänzen. Und von den ergänzten Details hängt natürlich auch ab, wie wir eine Situation – und damit auch eventuell beteiligte Individuen einschließlich uns selbst – einschätzen und bewerten. All dies geschieht in der Regel eben: automatisch.
Und genau das ist das Wesentliche dabei! Diese Automatik ist tückisch!
Ein Langsamfahrer vor mir wird so vielleicht zum Anfänger, der einfach (noch?) nicht fahren kann, zum rücksichtslosen Arschloch, dem es einfach egal ist, andere zu nötigen, oder vielleicht zum Mitmenschen, der für Bekannte ein verletztes Haustier zum Tierarzt bringt etc. etc., abhängig von den Umständen und meiner Stimmung. Und mit Rückwirkung auf meine weitere Stimmung. Ohne weitere Information ist er letztlich lediglich jemand, der vor mir aus mir unbekannten Gründen sehr langsam fährt. Nicht mehr. Nicht weniger. Oder?
Kurzum: In der überwältigenden Mehrheit an Alltagssituationen fehlen uns zahlreiche Daten, um eine Situation überhaupt korrekt einschätzen zu können. Dennoch verhalten wir uns manchmal bis oft, als lägen diese Daten vor. Ich finde: Wenn wir das tun, sollte es eine bewusste Entscheidung dafür sein. Wie die Nutzung eines Werkzeugs. Wir sollten nicht Passagiere in unserem eigenen Leben sein.
Manche Menschen sind geneigt, aus den unzähligen Möglichkeiten eher als negativ eingestufte Sachverhalte (woran mag das Eurer Meinung nach liegen?) anzunehmen, um Kohärenz zu erzeugen (das Autofahrer Beispiel ist da überaus passend) etc.). Manch einer nimmt es gar persönlich, wenn eine Ampel kurz vor Ankunft auf Rot schaltet. Als wäre das passiert, nur um ihn zu ärgern. Das hat zur Folge, dass der Alltag zusätzliche Negativ-Erlebnisse mit sich bringt. Im Verkehr, beim Einkaufen, in der Freizeit…überall rücksichtslose Idioten, nicht wahr?
Alleine sich regelmäßig bewusst zu machen, dass uns fast immer notwendige Informationen für eine wirklich korrekte Einschätzung fehlen, hat eine befreiende Wirkung. Es befreit von der Angewohnheit, alles und jedes um sich herum bewerten zu wollen ebenso wie von der Annahme, alles kontrollieren zu können. Es fördert die Akzeptanz dessen was einfach ist. Das ist ein Aspekt der Achtsamkeit und einer der Wege für mehr Anwesenheit im Jetzt. Es weitet den Blick und lässt uns die Wahl, die Welt und unsere Mitmenschen neutral zu sehen. Vielleicht sogar, ihnen mit Wohlwollen und Verständnis zu begegnen, und anzuerkennen, dass die meisten auch nur ihren Automatismen unterworfen sind. Damit reduziert es auch erlittene Kränkungen. Außerdem ehrt es Sokrates mit seinem geflügelten Wort vom Wissen um das Nichtwissen. Und mit Sokrates kann man nicht mehr streiten.
Wenn uns diese Tatsache bewusst ist, treffen wir Entscheidungen da wo sie erforderlich sind nach bestem Wissen und Gewissen anhand der vorhandenen Daten und sind uns bewusst, dass es eine gewisse Unsicherheit dabei gibt. Leben ist dynamisch, spannend, nie ganz vorhersehbar! Dein ganz eigener Film. Deine ganz eigene Reise! Bestimmt willst auch Du da mehr Mitspracherecht?
Daher meine Anregung: Vielleicht sagst Du Dir hin und wieder innerlich „HALT!“ und unterbrichst damit kurz den Ablauf der automatischen Kaskade, bevorzugt, wenn Du im Begriff bist, Dich zu ärgern, aufzuregen oder impulsiv zu handeln. Frage Dich: „Stimmt das auch was ich da denke? Gibt es dafür Beweise? Konkrete Anhaltspunkte? Tatsachen? Welche genau? Kann ich auch anders handeln, als ich gerade im Begriff bin zu handeln?“ Es kann auch erhellend sein, mit den Mitmenschen ins Gespräch zu kommen und die ein oder andere fehlende Information einfach mal anzufragen. Das kann zu überraschenden Ergebnissen führen. Versprochen!
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